Beratungspraxis

Beispiele:

Wir ich wenden uns in grosser Sorge und Hilflosigkeit an Sie. Unser Sohn, 18, besucht seit etwa einem halben Jahr einen Bibelkreis. Wir beobachten nun seit einigen Wochen eine grosse Wesensveränderung an ihm. Er möchte uns bekehren, glaubt, dass wir in die Hölle kommen, wenn wir uns nicht "seinem" Glauben anschliessen. Zudem ist er fest überzeugt, dass Jesus eines Tages wiederkehrt, und er und seine Glaubensbrüder und Glaubensschwestern errettet werden. Ein "halbwegs vernünftiges Gespräch" mit ihm ist nicht mehr gut möglich, und es schmerzt uns zusehen zu müssen, wie unser Sohn tiefer und tiefer in diesen Bibelkreis hineingezogen wird. Er hat sich von seinen bisherigen Freunden, Freundinnen komplett distanziert, und pflegt nur noch Kontakte zu seinen "neuen" Freunden. Wir wissen nicht mehr weiter, und hoffen sehr, dass Sie uns weiterhelfen können. Herzliche Grüsse,

Antwort M Scheidegger

Sehr geehrte …
Ihre Sorge und Hilflosigkeit kann ich verstehen. Es ist natürlich schlimm, wenn ein 18 jähriger Sohn plötzlich einen ganz andern Weg einschlägt, als die eigene Familie ihn lebt.

Nun ist es allerdings so, dass ein 18 Jähriger volljährig ist und entsprechend auch vom Leben gefordert ist, dass er nun seinen eigenen Weg geht. Da ist der Hilferuf der Eltern dazu angetan, als Teil des Problems wahrgenommen zu werden. Oft ist es ja so, dass junge Menschen, die noch wenig eigene Stabilität und Identität entwickelt haben, Mühe bekunden, wirklich herauszufinden, was denn der Weg sein könnte, der ihnen entspricht. In dieser Situation wird ein Angebot, das anders ist als das zu Hause erlebte dann als attraktiv wahrgenommen. Und meist hat dies auch mit den Sinn- und Glaubensfragen zu tun – ihn denen der junge Mensch sich ja auch neu orientieren muss, wenn er nicht in der Abhängigkeit der von den Eltern gelebten Religiosität verharren möchte. Man spricht davon, dass jede Bekehrung – als Abkehr vom hergebrachten zuerst einmal meist radikal vollzogen wird.

Da ist also nicht das religiöse neue Denken das eigentliche Problem, sondern das Unvermögen mit der Herkunftstradition ein sinnvolles und gutes Ablösungsprozedere zu finden. In einer solchen Situation habe ich während meiner aktiven Beratungstätigkeit immer versucht mit den Betroffenen ein gemeinsames Gespräch und einen Austausch zu erreichen. Insbesondere müssten die Angehörigen Interesse daran haben, welche Fragen und Probleme der junge Mensch nun mit seinem neuen Glauben verbindet. Hat er ihn mehr überzeugt, als der Glaube der Eltern? Ist er nach wie vor auf der Suche nach einer besseren Welt? Und hat er nicht genügend Identität und Vertrauen in sich selber finden können, dass er die ihm angebotenen Antworten auch kritisch und selbstkritisch hinterfragen kann?

Also, ich kann Ihnen nur sagen, es wird auf jeden Fall um ein gemeinsames Gespräch gehen, wenn Sie im Kontakt bleiben wollen. Dabei kann es nicht sein, dass Sie mit Ihrem Wertsystem bestimmen, was denn halbwegs vernünftig ist oder nicht. Es geht um das Erleben und Erfahren der Wirklichkeit von Ihrem Sohn, nicht um die Vernunft!

Ich hoffe, Ihnen mit diesen Gedanken eine kleine Anregung geben zu können. Allenfalls starten Sie das Gespräch mit Ihrem Sohn mit dem Hinweis, dass es Sie interessiere, wie er nun mit dieser religiösen Vorstellung zurecht komme. Dabei sollten Sie es schaffen, seine Aussagen nicht schon wieder an Ihren Vorstellungen zu messen, sondern sie einfach mal als sein Hilfskonstrukt sehen können, das er im Moment braucht. Und vielleicht können Sie dann Ihren Glauben einfach mal in den Raum stellen, dass Sie keine Angst haben vor der Hölle! (Oder hat man Ihnen die auch eingeimpft?). Ich wünsche Ihnen alles Gute und gesegnete Ostertage.

Mit freundlichem Gruss
Martin Scheidegger



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